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Die selbst ernannte „Lebensschutz“-Bewegung – Geschichte, Ideologie und Akteur*innen

Die „Lebensschutz“-Bewegung besteht aus einer Vielzahl von Gruppen und Einzelpersonen, die das gemeinsame Ziel verfolgen, Schwangerschaftsabbrüche zu kritisieren und dagegen zu agitieren. Die ersten „Pro Life“-Organisationen entstanden Ende der 1960er Jahre in den USA. Deutsche „Lebensrechtsgruppen“ gründeten sich in Reaktion auf die zweite Frauenbewegung und deren Forderung nach reproduktiver und sexueller Selbstbestimmung in den frühen 1970er Jahren.

Vertreter*innen der Bewegung fühlen sich für den „Schutz des menschlichen Lebens von der Befruchtung bis zum natürlichen Tod“ zuständig. Ihr primäres Ziel ist es, die Möglichkeiten für Menschen, die ungewollt schwanger sind einzuschränken, um Abtreibungen zu verunmöglichen. Seit den 1990er Jahren erweiterten “Lebensschutz“-Organisationen ihren Fokus und setzen sich seither auch gegen Sterbehilfe, Organspende, Stammzellenforschung, Pränataldiagnostik oder Leihmutterschaft ein.

Akteur*innen und Organisationen

Die selbst ernannte „Lebensschutz“-Bewegung profitiert nicht nur vom allgemeinen Rechtsruck, sie ist auch wesentlicher Teil davon. Ihre Mitglieder rekrutieren sich aus christlich-fundamentalistischen, konservativen, (extrem) rechten Teilen der Gesellschaft.

„1000 Kreuze Marsch“ am 11. Mai 2019, Foto: Marcus Buschmüller

Im deutschsprachigen Raum gibt es zahlreiche Vereine und Gruppierungen, die mit verschiedenen Schwerpunkten gegen das Recht auf Schwangerschaftsabbruch arbeiten. Der größte Dachverband Deutschlands, der Bundesverband Lebensrecht e. V. (BVL) betreibt in Berlin Lobbyarbeit und organisiert einmal im Jahr den so genannten „Marsch für das Leben“ in Berlin. Die Demonstration, die wohl zu den wichtigsten öffentlichen Aktionsformen der „Lebensschutz“-Bewegung zu zählen ist, findet seit 2002 statt und zieht jedes Mal tausende Abtreibungsgegner*innen an. Im BVL sind derzeit zwölf Vereine zusammengeschlossen. Dazu zählt zum Beispiel die „Aktion Lebensrecht für Alle“ (ALfA), der vermutlich älteste Anti-Abtreibungsverein Deutschlands mit Sitz in Augsburg. Ebenfalls im Dachverband BVL sind die „Juristenvereinigung Lebensrecht“, die das Thema Abtreibung von rechtlicher Seite aus bearbeitet und die „Ärzte für das Leben“, die einerseits das Ziel haben Ärzt*innen anzusprechen und andererseits als medizinische „Expert*innen“ auftreten.

Aus dem christlich-fundamentalistischen Spektrum wäre zum einen „Euro Pro Life“ mit seinem Schwesterverein „Helfer für Gottes kostbare Kinder“ aus München, sowie die Initiative „40 Tage für das Leben“ zu nennen. Beide Gruppierungen organisieren regelmäßig Mahnwachen, bei denen vor Kliniken und Beratungsstellen gebetet und gesungen wird, um so gegen Abtreibungen zu protestieren. „Euro Pro Life“ organisiert darüber hinaus monatliche Gebetsmärsche und die so genannten „1000 Kreuze Märsche“ in Münster, Fulda, München und Salzburg.

Die selbst ernannte „Lebensschutz“-Bewegung – Geschichte, Ideologie und Akteur*innen
„1000 Kreuze Marsch“ am 11. Mai 2019, Foto: Marcus Buschmüller

Da nach deutschem Recht dem Abbruch eine Pflichtberatung vorausgehen muss, haben sich viele Organisationen auf die „Beratung“ von schwangeren Menschen spezialisiert. Eine dieser Fake-Beratungsstellen ist der Heidelberger Verein „Pro Femina“ mit seinem Projekt „1000 plus“. Neben einer Niederlassung in Heidelberg betreibt der Verein „Beratungsstellen“ in München und Berlin. Zu den dort angebotenen Beratungen sei gesagt, dass sie nicht – wie vom Gesetzgeber vorgegeben – ergebnisoffen geführt werden und kein Schein ausgestellt wird, der zur Abtreibung berechtigt. Vielmehr zeigen Recherchen, dass „Pro Femina“ versucht, Klient*innen bei der Beratung zu manipulieren, um so zu verhindern, dass sie einen Schwangerschaftsabbruch durchführen.

Im Parteienspektrum sind es vor allem die Unionsparteien, welche die Positionen der Abtreibungsgegner*innen in den Parlamenten vertreten. In den Reihen der CDU/ CSU finden sich zahlreiche überzeugte „Lebensschützer*innen“. So sendete Volker Kauder, ehemaliger Fraktionsvorsitzender der CDU/ CSU-Fraktion im Bundestag, 2018 Grüße an den „Marsch für das Leben“ in Berlin und dankte den Teilnehmer*innen für ihren Einsatz. Auch Philipp Amthor oder Jens Spahn treten als „Lebensrechtler“ auf. Die „Christdemokraten für das Leben“ (CDL), eine Gruppe radikaler Abtreibungsgegner*innen innerhalb der CDU/ CSU wurde 1985 durch Mitglieder der Unionsparteien gegründet. Die Gruppierung betreibt parteiintern Lobbyarbeit, um den Abtreibungsparagrafen §218 zu verschärfen oder Schwangerschaftsabbrüche ganz zu verbieten.

Mit der Alternative für Deutschland (AfD) ist ein weiterer antifeministischer Player in die Parlamente eingezogen. Zum Thema Schwangerschaftsabbruch schreibt die AfD in ihrem Parteiprogramm zur bayerischen Landtagswahl 2018, dass „Abtreibung grundsätzlich Unrecht“ sei. Mit zahlreichen Anfragen zum Thema Schwangerschaftsabbruch greift die AfD nicht nur in Bayern das Recht auf reproduktive und sexuelle Selbstbestimmung an.

Auch Teile der so genannten neuen Rechten beteiligen sich über ihre Publikationsorgane. Die „Junge Freiheit“ berichtet beispielsweise regelmäßig über den „Marsch für das Leben“, über das Symposium der „Demo für alle“ (à Verlinken) im Februar 2018 in München oder eine Kundgebung der CDL gemeinsam mit der ALfA am Frauenkampftag 2018 vor der SPD Zentrale in München.

Ideologie

„Lebensrechtler*innen“ sind der Überzeugung, dass das Leben von der Zeugung, also der Verschmelzung von Samen und Eizelle, bis zum natürlichen Tod, ausschließlich in Gottes Hand liegt. Jegliche Einflussnahme, also Abtreibung, Verhütung, Sterbehilfe, Pränataldiagnostik, etc. lehnen die meisten von ihnen ab.

Die Autor*innen Eike Sanders, Felix Hansen und Ulli Jentsch vom Berliner apabiz haben herausgearbeitet, dass der symbolisch aufgeladene Kampf gegen Abtreibung heute eine Vehikelfunktion „für eine umfassende Kulturkritik“ an der offenen, säkular-aufgeklärten und demokratisch-pluralistischen Gesellschaft erfüllt. Abtreibungsgegner*innen sind antifeministisch und stellen sich gegen eine liberale Gesellschaft, in der das Individuum selbstbestimmt über den eigene Körper und die eigene Lebensweise entscheidet.

Methoden der Abtreibungsgegner*innen

Die Methoden der Abtreibungsgegner*innen sind so vielfältig wie die Szene selbst. Viele der Vereine haben sich auf die „Beratung“ und Betreuung von schwangeren Personen konzentriert. Neben Infoständen und -veranstaltungen im öffentlichen Raum oder auf Messen betreiben einige „Pro Life“-Organisationen aktiv Lobbyarbeit, um frühzeitig Einfluss auf Gesetzgebungsprozesse zu nehmen. Einzelne Akteur*innen versuchen, medizinisches Fachpersonal mit Strafanzeigen unter Druck zu setzen, das bekannteste Opfer dieser Methode ist die Gießener Ärztin Kristina Hänel.

Die selbst ernannte „Lebensschutz“-Bewegung – Geschichte, Ideologie und Akteur*innen
„Gebetsvigil“ am 22. Dezember 2019, Foto: Marcus Buschmüller

Zum Repertoire gehören zudem sogenannte „Gehsteigberatungen“, bei denen Abtreibungsgegner*innen Menschen vor Kliniken oder Beratungsstellen abfangen und versuchen, sie mit manipulativen Methoden davon abzubringen, einen Schwangerschaftsabbruch durchzuführen. Weitere Aktionsformen sind Demonstrationen, Gebetsmärsche und Mahnwachen.

Leben schützen, aber richtig.

In Zeiten wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Veränderung und Verunsicherung erstarken antifeministische Kräfte. Es ist zu beobachten, dass derzeit mühsam erkämpfte Errungenschaften angegriffen und von Konservativen, (extrem) Rechten und christlichen Fundamentalist*innen in Frage gestellt werden. Abtreibungsgegner*innen geben sich selbst das Label „Pro Life“ (engl. für das Leben). Ihre Arbeit hat mit Leben schützen jedoch nicht viel zu tun. Abtreibung hat es immer gegeben und wird es immer geben.

Die selbst ernannte „Lebensschutz“-Bewegung – Geschichte, Ideologie und Akteur*innen
Protest gegen Gebetsmarsch am 25. Januar 2020, Foto: Marcus Buschmüller

Ein Verbot von Abtreibungen würde also vermutlich nur dazu führen, dass noch mehr Menschen Jahr für Jahr ihr Leben verlieren, weil sie keinen Zugang zu sicheren Schwangerschaftsabbrüchen haben. „Sicher“ ist ein Abbruch laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) dann, wenn er von qualifiziertem Personal und unter medizinischen Mindeststandards durchgeführt wird. Bereits heute sterben jährlich mindestens 22.800 Menschen in Folge eines Schwangerschaftsabbruchs, sieben Millionen erleiden schwerwiegende gesundheitliche Folgen. Um das Risiko zu minimieren, empfiehlt die WHO auf umfassende Sexualaufklärung zu setzen, effektive Verhütungsmethoden zur Verfügung zu stellen, Schwangerschaftsabbrüche zu legalisieren und den Zugang dazu sicherzustellen.