Am Samstagnachmittag startet auf dem Königsplatz der mittlerweile fünfte sogenannte „Marsch fürs Leben“. Die Veranstaltung, organisiert vom Verein „Stimme der Stillen“, fällt in diesem Jahr kleiner aus als angekündigt. Statt der behaupteten 6.000 Teilnehmenden, die Moderator Christian Schumacher von der Bühne aus verkündet, zählen Beobachter*innen etwa 1.800 bis 2.000 Menschen. Viele Teilnehmende tragen religiöse Symbole, einige sogar zwei Schilder – offenbar waren mehr Materialien vorbereitet worden, als benötigt wurden. Bereits im Vorfeld deutete sich ein Rückgang der Mobilisierung an: Die Veranstaltenden wirken zurückhaltender als in den Vorjahren, sowohl in ihrer öffentlichen Präsenz als auch in der Bewerbung des Marsches.
Der Großteil der Teilnehmenden stammt wie in den Vorjahren aus dem Spektrum klassischer „Lebensschützer*innen“, deren Ablehnung von Schwangerschaftsabbrüchen primär religiös motiviert ist. Verschiedene Organisationen wie „Kaleb“, „Sundaysforlife“, die „Aktion Lebensrecht für Alle“ oder die „Stiftung Ja zum Leben“ informieren über ihre Arbeit, bieten Merchandise an und prägen das Bild des Marsches mit christlichen Symbolen, Fahnen und Kreuzen.
Auffällig ist die wachsende Präsenz extrem rechter Akteure. Unter den Teilnehmenden befinden sich mehrere Vertreter der AfD sowie Mitglieder der „Identitären Bewegung“. Zu ihnen zählt unter anderem der AfD-Landtagsabgeordnete Franz Schmid, der im Vorfeld von einem „moralischen Verfall“ in Deutschland sprach, sowie Tim Schulz, AfD-Funktionär aus dem Kreisverband München-Land mit Verbindungen zur IB. Auch jüngere extrem rechte Aktivist*innen, die zuletzt bei Demonstrationen der extrem rechten Bewegung „Gemeinsam für Deutschland“ in Erscheinung getreten waren, nehmen an dem Umzug teil. Dabei provozieren sie wiederholt Gegendemonstrant*innen und zeigen dabei Handzeichen, die als rassistische „White Power“-Geste gelten.
Verschwörungsideologische Narrative sind auch in diesem Jahr ein zentrales Element des Marsches. So bemüht Kristijan Aufiero, Geschäftsführer der Organisation „profemina-1000plus“, in seiner Rede die Vorstellung einer einflussreichen „Abtreibungslobby“ . Aufiero, der zuletzt als Sachverständiger für die AfD im Bundestags-Rechtsausschuss auftrat, beklagt, dass „Abtreibungsaktivisten“ angeblich die öffentliche Debatte und die Kultur dominieren würden – in Medien, Politik, Bildungseinrichtungen und sogar Teilen der Kirchen. Seine Rhetorik folgt einem klaren Gut-gegen-Böse-Schema. Wer für reproduktive Selbstbestimmung eintritt, wird in seinen Ausführungen als gewissenlos, manipulierend und gefährlich dargestellt.
Der Franziskaner Paulus-Maria Tautz, bekannt für die Verbreitung tradierter Geschlechterrollen auf Männerkonferenzen, zog einen Vergleich zwischen dem Konzentrationslager Dachau und dem heutigen Protest gegen Schwangerschaftsabbrüche. In seiner Rede sagte er wörtlich: „Stellt euch vor, in Dachau, KZ Dachau, wären tausende Menschen draußen gewesen, hätten gebetet und gesagt: Ihr bringt hier unsere Priester nicht um. Dafür stehen wir. Und das müssen wir lernen. Wir müssen lernen zu sagen: Wir kämpfen fürs Leben. Wir treten ein.“ Tautz’ Aussagen relativieren die nationalsozialistischen Verbrechen, indem sie ihr Engagement gegen reproduktive Rechte in den historischen Kontext des KZ Dachau setzen. Dabei wird nicht nur die Einzigartigkeit des Holocaust missachtet, sondern auch versucht, den „Lebensschutz“ als moralisch gleichwertigen Widerstand darzustellen.